Meconopsis

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Es ging auf Ostern zu

Die Symphonie kann beginnen

Es ging auf Ostern zu.

Damals war ich noch nicht einmal 8 Jahre alt. Man erzählte uns die Glocken seien nach Rom gepilgert und wir Buben müssten an deren Stelle in den Straßen den Einwohnern mit Rasseln und Klappern die Gebetsstunden anzeigen. Das war recht mühsam, so früh am Morgen aufzustehen, doch es machte Spass.Wir hielten die drei Tage durch, weil ja recht bald darauf an jeder Haustür gesammelt wurde. Das war ein wichtiges Element dieser Aktivität und wir klibberten damals keinesfalls für andere oder höher gestellten Leute, sondern es war abgemacht, dass alles als deren Verdienst gerecht unter den „Klibberjungen“ zu verteilen. Geld, hart gekochte Eier, mit und ohne Farben, Obst, wobei es sich meist um Restbestände von knaddrigen, welken Äpfeln handelte, Schokolade und Bonbons. Doch an diesem Tag geschah etwas recht Merkwürdiges. Nicht einmal hundert Meter von da, wo wir unsere Sammelaktion begonnen hatten, befand sich ein Wirtshaus. Der Inhaber war uns nur als Herr Leonard bekannt. An diesem Tag hatte er noch am späten Morgen die Rollläden seiner beiden großen Fenster nicht hochgezogen. Auch hatte er bereits eine kräftige Alkoholfahne als er uns bat in die ins Dämmerlicht gebadete Wirtsstube zu kommen, wo er zusätzliches Licht anzündete. Dann räumte er alle Schränke aus und füllte unsere Säcke mit Zigaretten, Zigarren. Streichhölzer sowie eine Menge dieser dreieckigen Tüten voller „Eco“ - Tabak. Uns wuchsen Stielaugen dabei und dann erwischte er die beiden Zapfhähne und füllte alle Gläser, die da standen mit Bier. Er ließ das Bier einfach laufen, bis dass die Hähne nach Luft schnaubten. Wir verstanden nichts mehr. Für uns stand die Welt regelrecht Kopf, nicht nur weil das Bier, das wir zum ersten Mal kosten konnten, uns sofort in die Birnen stieg. Dann luden wir die großen Humpen alle in Körbe und stiegen hinter Herrn Leonard einhergehend, hinab auf die Kegelbahn. Herr Leonard machte es uns vor. Wer konnte mit einem Humpen die Kegel treffen? In kürzester Zeit war die Kegelbahn ein großer Scherbenhaufen und Herr Leonard schleppte immer mehr Gläser und Flaschen, sogar gefüllte herbei. Rotwein, Weißwein floss in Strömen. So eine Schlacht hatten wir noch nie geschlagen und als Herr Leonard auf einmal in Tränen ausbrach und uns wieder auf die Straße begleitete, da ahnte aber auch niemand von uns warum, wieso und weshalb dieses zerstörerische Theater geschehen war.
haben wir es erst richtig, als wir älter waren. Herr Leonard war Jude. Bevor er sein Hab und Gut zurücklassen musste, denn er wollte vor der Invasion der Deutschen fliehen, hatte er mit uns Buben seine Wut am eigenen Hausrat ausgelassen, damit seine Nachfolger nur noch ein Trümmerfeld vorfinden sollten.
An dem Tag war es sehr spät, jabereits gegen Mittag, als wir mit dem Teilen fertig waren, denn niemand wagte es, in so einem besäuselten Zustand nach Hause zu gehen. Doch dieser Zauber war schnell Gesprächsstoff des ganzen Dorfes geworden und dauertenoch einige Tage an. Aber ich kann mich erinnern, dass man sich zwar heftig über das Benehmen von Herrn Leonard aufgeregt hat, weil er uns Alkohol zu trinken gegeben hatte, doch unsere Eltern befanden sich in dem Dilemma einerseits Mitleid für Herrn Leonard auf zu bringen auf der anderen Seite ihm aber eine gewisse Verantwortungslosigkeit zu unterstellen. Es wundert mich heute noch, dass da nicht mehr Proteste in Richtung Wirt ausgesprochen wurden. Wahrscheinlich weil unsere Väter gratis mit Tabak und Zigaretten, aus der Sammelaktion bedient wurden.
Herr Leonard setzte sich in seinen Wagen und flüchtete über die belgische Grenze, wahrscheinlich mit der Absicht sich in Richtung England abzusetzen. Später erzählte man uns, dass er nicht sehr weit gekommen sei und bereits unterwegs in Belgien von den Deutschen erwischt und später erschossen oder im KZ umgekommen sei.
Als mein Vater am 10. Mai 1940 von seinem Dienst an der Zollschranke an der luxemburgisch-französischen Grenze zurückkam, war sein Gesicht bleich wie ein Leichentuch. An unserm Haus war bereits ein Teil der Wehrmacht, meist Kradfahrer und Späher, vorbei gebraust. Er musste also zwischen den Fronten durch. So fuhr er über Umwege auf seinem Fahrrad, die Uniformjacke über die Lenkstange gehängt, als vor ihm ein Hund krepierte, getroffen von einem Schuss oder durch einen Splitter. Mein Vater und auch wir waren überaus glücklich, dass er heil zwischen den Fronten durchgekommen war. Von diesen letzten Minuten in ihrem Lande, die er mit der ins Ausland flüchtenden Großherzogin Charlotte und ihrem Begleitpersonal verbrachte, kann man in dessen eigenen Version weiter oben in diesen Seiten lesen.
deutsche Armee war also bereits bis an die französische Grenze vorgestoßen, indem sie einfach unser kleines Land überfallen und besetzt hatte.
Rodinger warteten gespannt auf die Reaktion der Franzosen, die in anderen Ortschaften des Südens unseres Landes anscheinend sehr heftig gewesen sein soll. Niemand fühlte sich mehr sicher, wusste aber nicht wie man aus dem Mittelpunkt des Geschehens kommen konnte. In der Garageneinfahrt etwas gegenüber unserem Hause hatten die Deutschen eine riesige nahezu 4 Meter lange Kanone geparkt und das sollte seine Folgen haben. Da mein Vater sich bereits ausgemalt hatte, dass es recht bald zum Beschuss kommen würde, hatte er wohlweislich ein eisernes Bett und Decken herunter aufs Parterre geschleppt, wo wir uns für die kommende Nacht einrichteten.
Die Dunkelheit brach herein. Plötzlich krachte es im Hinterhof unseres Hauses. Obschon die Fensterladen geschlossen waren, konnte man die Blitze eines Einschlags hell aufleuchten sehen. Dann musste es schnell gehen. Wir rannten in den Keller und ich kann mich noch erinnern, dass zwischen den Gebeten die laut und inbrünstig heruntergeleiert wurden, es über uns im Haus noch manche Einschläge gab. Wir schätzen diese später auf sieben Granaten, deren Splitter wir später fanden. Es war uns, als ob wir die Zielscheibe der Franzosen geworden seien. Unser Nachbar erhielt noch viel mehr Einschläge. Die Geschosse galten alle der schweren Kanone, die am Abend zuvor, unserm Haus gegenüber, abgestellt war. Der Beschuss war aber absolut unsinnig und schien auch recht bald als das erkannt worden zu sein, denn es dauerte eigentlich nur kurze Zeit. Nur ein Volltreffer in die Garage blieb uns durch sein ungeheures Krachen speziell in Erinnerung. Dieser einzige Treffer war durch einen flachen Kanonen- oder Artillerieschuss direkt aus der Maginotlinie herüber gekommen und hatte horizontal gesehen drei Mauern der Garage durchbrochen. Die Kanone aber war klugerweise bereits vor dem Beginn des Beschusses anderswohin gebracht worden. Leider hatte es etwas gedauert, bis die ganz gewiss in Zivil herumlaufenden Dorfspione diese Information an die schussfreudigen und die Luxemburger Neutralität ebenfalls verletzenden Franzosen weiter geleitet hatten.
Ich habe heute eigentlich in Erinnerung, dass ich zwar mit gebetet habe, das Ganze mir aber kaum Angst eingejagt hat. Es war nur ein weiteresErlebnis, das ich komischerweise keinesfalls als gefährlich verspürte. Nur mein Bruder schrie im Dunkeln, er hätte einen Splitter abbekommen.
Als vor Morgengrauen die Schießerei aufgehört hatte, vernahmen wir plötzlich eine Stimme von oben aus der Küche herunter. „Lebt ihr noch?“ Es war unser Nachbar. Er war durch die entstandene Bresche in der Mauer, wo sich einst das Küchenfenster befand,eingestiegen.
Wir wagten uns über den direkten Weg, den Kellerausgang, hinaus auf die Straße. Meine Eltern untersuchten meinen Bruder, wo denn der vermeintliche Splitter stecke. Auf unerklärliche Weise hatte sich ein Holzspan von circa 20 cm Länge schnurgerade zwischen Arm und Hemdsärmeleingenistet. Niemand konnte sich jedoch diesen eigenartigen Vorfall erklären.Persönlich jedoch zweifelte ich nicht daran, dass mein Bruder sich diesen Span möglicherweise in Ungedanken selber unters Hemd geschoben hatte.
zogen sofort zu unserm zweiten Nachbarn um, in dessen gewölbeartigen Kellerräumen waren wir sicherer, denn zuerst dachten wir unser Haus könnte zusammenstürzen. Ich war aber dabei, als man die Schäden in Augenschein nahm. Wir konnten uns beruhigen. Nahezu die halbe Wand unseres Schlafzimmers zum Garten hin war zerstört und ein großes Loch klaffte da, wo vorher unser Bett sich befand. Die kluge Vorsehung unseres Vaters hatte uns beiden ganz gewiss das Leben gerettet.
Als wir uns von der Innenseite näherten, sahen wir erst richtig, was sich abgespielt hatte. Zuerst hatten einige Granaten eine Öffnung in die mit roten Ziegeln gebaute Wand gesprengt, dann erst explodierten die nachfolgenden Geschosse wahrscheinlich auf dem Bett. Sämtliche Möbel waren total zerstört und in der Decke klaffte ebenfalls ein riesiges Loch. Wir konnten von Glück sprechen, dass bei diesen Explosionenkein Feuer ausgebrochen war.
Das Hausdach unseres ersten Nachbarn hing kopflastig schräg über die Straßenseite. Dort waren wahrscheinlich noch mehr Granaten eingeschlagen als bei uns. Auf jeden Fall waren wir froh, dass die Durchschlagskraft dieser Granaten eigentlich sehr gering war, möglicherweise handelte es sich nur um Mörsergranaten. La Force de frappe de la Grande Nation entpuppte sich eindeutig als pure Schaumschlägerei. Die Wirkung der einzelnen Geschosse würde ich heute einstufen wie einen Schlag mit einem Paket ungekochter Spaghetti auf den Kopf eines Feindes.
Bis dahin waren die Deutschen uns zwar keinesfalls gleichgültig aber jetzt erst wurde uns klar, dass diese die Schuld an unserm Unglück trugen und dies minderte keinesfalls den bei uns aufkommenden Hass.

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